Wittenberger Röhrwasser
Das Wittenberger Röhrwasser ist eine mittelalterliche Wasserversorgungsanlage in der Lutherstadt Wittenberg.
Geschichte
Obwohl Wittenberg an der Elbe liegt, versorgten sich die Einwohner der Stadt im 16. Jahrhundert in ihren vier Stadtvierteln durch 15 Brunnen und 2 Bäche, den Rischebach und den Faulen Bach mit Wasser. Die Bäche fließen noch heute, teilweise wieder sichtbar, durch das Stadtzentrum.
Da die Bäche und Brunnen aber das Bedürfnis nach frischem Wasser der Wittenberger nicht immer stillen konnten, ließ der Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige im Jahre 1542/1543 ein Quellgebiet erschließen. Ein Röhrmeister verlegte nördlich der Stadt vom Teucheler Wald aus eine Röhrwasserleitung in das Schloss. Diese Leitung bestand aus hohlen Holzstämmen, die mit Eisenbuchsen verbunden waren. Das System war so effektiv, dass der Fürst Wasser an Universität und Bürgerschaft verkaufen konnte und so Anschlüsse, so genannte Portionen, in einige Höfe der Schloss- und Collegienstraße geführt wurden. Seit 1929 läuft diese Schlossröhrfahrt nicht mehr.
Die Bürger Wittenbergs waren begeistert von dieser Art der Wasserversorgung. Um nicht vom Kurfürsten abhängig zu sein, entschlossen sich 1556 sieben wohlhabende Bürger eine eigene Röhrwassergesellschaft zu gründen. In der Annendorfer Mark erschlossen sie eine Quelle und leiteten deren Wasser bis zu ihren Häusern. Die 8. Portion schenkten sie dem geachteten und berühmten Philipp Melanchthon für seine Verdienste um Stadt, Kirche und Schule. Diese Röhrfahrt wurde später „Altes Jungfernröhrwasser“ genannt.
Auch bei dieser Röhrfahrt, floss ständig genügend Wasser. Deshalb wurden an weitere vierzehn Interessenten Portionen vergeben (22 Portionen gesamt). Eine Portion lieferte in der Minute ca. 2,0 bis 2,5 Liter frisches sauberes Wasser. Die Namen der Gründer des Alten Jungfernröhrwassers sind auf dem Cranachhof, Schlossstraße 1, auf einer Gedenktafel des dortigen Brunnens genannt.
Im Quellgebiet wurde das Wasser in Brunnen gesammelt. Von dort floss das Röhrwasser in Holzröhren (Durchmesser der Baumstämme etwa 30 cm, Durchmesser der Röhre etwa 10,5 cm) durch natürliches Gefälle in die Stadt. Geschmiedete Buchsen (walzenförmige, etwa 5 – 10 cm breite Eisenringe) wurden je zur Hälfte in die Stöße der Rohre geschlagen und verbanden die Holzröhren. Der Einlauf zum Röhrwasser war mit einem Sieb versehen, um Verunreinigungen und Verstopfungen zu vermeiden. Diese Röhrleitung nannte man auch eine Röhrfahrt. Sie lag mindestens 0,8 bis 1 Meter unter der Erde.
In den Straßen der Stadt wurde das Wasser von der Hauptleitung durch Holzröhren auf die Höfe geführt. Im Hahnhaus auf der Straße wurde mit dem Hahnhausschlüssel die Zuleitung an- oder abgestellt. Der verschließbare Deckel des Hahnhauses in Straßenhöhe konnte nur gemeinsam durch den Rohrmeister und den Abnehmer geöffnet werden. Solch ein Hahnhaus ist heute unter der Einfahrt zum Beyerhof (Markt 6, Brauhaus) zu sehen.
Auf dem Hof stieg das Röhrwasser in dem Ständer bis zu einer Ausflussöffnung und floss dann in der vorgeschriebenen Höhe aus einem horizontalen Rohr (Durchmesser 8 mm) Tag und Nacht, Sommer wie Winter in den Wassertrog. Die Rohrkästen (Wassertröge) auf den Höfen wurden aus starken Brettern, erst später aus Sandstein bzw. Mauerwerk, angefertigt. Zum Abdichten verwendete man Moos, Pech, Schwefel, Harz und Wachs.
Die Auslaufhöhe wurde von der jeweiligen Gewerkschaft so bestimmt, dass das zinnerne Wassermaß in der vorgeschriebenen Zeit voll war (in 1 Minute etwa 2,0 bis 2,5 Liter). Aus dem vollen Wassertrog strömte das überflüssige Röhrwasser in einer Rinne über den Hof auf die Straße und von dort in die vorbeifließenden Bäche.
Im Jahr 1625, mitten im Dreißigjährigen Krieg, wurde der Professor der Mathematik, Ambrosius Rhode, der Initiator für den Bau der 4. Röhrwasserfahrt. Das Quellgebiet wurde auf dem Gelände des Wittenberger Amtsdorfes Reinsdorf erworben und erschlossen. Von dort wurde die hölzerne Wasserleitung in die Coswiger Straße und die Schlossstraße geleitet. Dieses „Rhodische Wasser“ versorgte zunächst 19 Interessenten. Im Jahre 1749 waren 22 Portionen vergeben.
Ein fest angestellter Röhrmeister betreute mit seinem Gesellen ständig die Röhrwasserfahrten und sorgte dafür, dass die Röhrwasser auch in Kriegs- und Notzeiten die Wittenberger mit gutem Trinkwasser versorgten.
Mit der zunehmenden Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts wurden Wasserwerke gebaut, die nun Städte und Industrie versorgten. Damit verloren die Röhrwasserfahrten immer mehr an Bedeutung und viele verfielen im Laufe der Zeit.
In der Lutherstadt Wittenberg sind bis in die heutige Zeit zwei der ehemals fünf Röhrwasserfahrten funktionstüchtig erhalten geblieben; das Alte- und Neue Jungfernröhrwasser. Ihre Zapfstellen (Portionen) sind auf vielen Höfen in der Altstadt, sowie auf dem Markt und dem Holzmarkt zu besichtigen.
Die „Gewerkschaft Altes und Neues Jungfernröhrwasser der Lutherstadt Wittenberg e.V.“ betreut die Röhrwasserfahrten und sorgt dafür, dass dieses technische Denkmal aus dem 16. Jahrhundert erhalten bleibt.
Bei einer Gesamtlänge von 28 km und der Länge einer einzelnen Holzröhre von ca. 2 m, wurden rund 14.000 Holzröhren zum Bau der Röhrwasserleitungen benötigt. Wenn man annimmt, dass aus einem Baum etwa vier Holzröhren gewonnen werden konnten, so sind für den Bau der Röhrwasserleitungen im Laufe der Jahre etwa 3.500 Bäume gefällt worden.